Ton Koopman - Lieblingskantate

tk

Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und Gott BWV 127

Als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war, kaufte ich von dem Geld, das ich als Organist in der Kirche verdient hatte, eine LP mit einer Aufnahme dieser Kantate mit Hans Grischkat. Vom ersten Mal an, dass ich die Platte hörte, liebte ich diese Kantate, und das tue ich noch heute. Damals wusste ich noch nichts über die Choralkantaten oder Bachs zweiten Jahrgang, aber ich war sehr beeindruckt von dem ergreifenden Anfang mit den besonderen Blockflötenpartien. Ich habe die LP rauf und runter abgespielt.

Kurz bevor ich zum Studieren von meiner Geburtsstadt Zwolle nach Amsterdam umzog, hatte ich Gelegenheit, diese Kantate selbst zu musizieren. Ich spielte Continuo am Cembalo, und beim Ausführen der Basslinie konnte ich das Werk noch besser genießen. Dem herrlichen Eröffnungschor folgt ein Secco-Rezitativ, das mir damals noch nicht so viel sagte, und danach eine der erhabensten Sopran-Arien, die ich kenne. Die Solo-Oboe, begleitet von Bass-Pizzicati und kurzen Blockflötentönen, bereitet den Weg für den Sopran, der aus vollem Herzen singt: „Die Seele ruht in Jesu Händen“. Atemberaubend vertont Bach hier das Sehnen nach dem Jenseits (man hört die Totenglocken). Zum Glück gibt es ein Da capo! Es folgt ein Accompagnato-Rezitativ mit Trompetensolo: ein Feuerwerk, mit dem Bach beinahe opernhaft das Jüngste Gericht darstellt. Abschließend ein Choral, worin wir um Gottes Hilfe und um Vergebung unserer Sünden bitten. Was für ein herrlicher Choral – das fand ich damals wie heute.



Bach schrieb viele geniale Kantaten. Aber diese (mit der sich Bach – an der Handschrift erkennbar – ordentlich abgemüht hat) steht für mich doch an einsamer Spitze. Sie rührt mich noch immer an. Bestimmte Akkorde treffen direkt ins Herz. Welch ein Meisterwerk!

 
Foto: © Foppe Schutt