Flächen und Räume, eine weisse Ebene, kalt, düster, gedämpft, ohne spezielle Bedeutung, aber unerbittlich. Darin ein wahrnehmendes, sich erinnerndes, aber nicht mehr selbst handlungsfähiges Individuum, das sich durch die Ebene durchschlägt, trotz ihrer gleichförmigen Unbegehbarkeit. Stillstehen. Weitergehen. Anhalten, weitergehen, anhalten. Und immer wieder von neuem sich in Bewegung setzen. Die weissen Flächen der Buchseiten (Claude Simon, Les Géorgiques), gleichförmig, ebenmässig bedruckt, Buchstaben, Typographie. Verschlungene Nebensätze, Klammern, Abschnitte. Punkte: stillstehen, Cäsur. Worttext: weiterlesen, anhalten, weiterlesen. Komma: anhalten, "aushalten", Fermate. Der Leser (die Leserin) als wahrnehmendes, dem Text ausgeliefertes Individuum, durch die Satzstrukturen ständig und unerbittlich gezwungen, sich zu erinnern, Verbindungen herzustellen, aktiv inmitten der Gleichförmigkeit des Druckes.
Der Text: der Erklärungsversuch (in drei Abschnitten) eines Menschen verachtenden Desasters, 1940. Erstens... Zweitens... Drittens... Unaufhaltbarer Auflösungsprozess einer vermeintlich unzerrüttbaren Ordnung, wobei allein der Einzelne übrigbleibt. Vier weitere Abschnitte, die Beschreibung der sinnlosen Vernichtung wehrlosen menschlichen Lebens durch von Flugzeugen abgeworfene Bomben.
Die Musik: eine Umsetzung der typographischen Fläche und der Satzstrukturen. Einer Solistengruppe (Horn, Tuba, Viola, 2 Violoncelli; drei Abschnitte) stehen drei Orchestergruppen (Blech und tiefe Streicher, beides mit Dämpfern; vier Abschnitte) gegenüber. Das Soloquintett ist in sich polyphon, die einzelnen Hauptstimmen werden in der zugehörigen, hinter dem Quintett positionierten Gruppe 2 (Hintergrund, Gedächtnis, Stütze, Projektionsfläche) verstärkt und harmonisch verdreifacht. Die auf beiden Bühnenseiten positionierten Gruppen 1 und 3 teilen sich eine Textstruktur, die im Gegensatz zu den Solisten nicht aus polyphonen Linien, sondern aus Schichtungen von Flächen besteht. In klar begrenzten Momenten übernehmen auch sie die Stimmen (Punkte und Linien) der Solisten, was zu deren Potenzierung und, als zentrales Moment, zu deren Verräumlichung führt. «n'était le froid» (géorgiques III) ist der Fluchtpunkt des Zyklus «les géorgiques»: vom Punkt zur Linie und zur Polyphonie von Linien, von der Linie zur Fläche und zu Schichtungen (Polyphonien) von Flächen, von Flächen zu Räumen bis zu einer eigentlichen Raumpolyphonie. Doch nie wird dabei der Ausgangspunkt aus dem Blickfeld entlassen: die Allgegenwärtigkeit des Zentraltons cis' (reales, strukturierendes und orchestrierendes Zentrum des Werks) oder der immer wiederkehrende, im Schlussteil obsessiv präsente Zentralakkord, beide im Rhythmus des zugrunde liegenden literarischen Textes und den von ihm abgeleiteten elementaren Zeitstrukturen der Komposition. (Walter Feldmann)