Psalmvertonungen

Klangvolle Gebete

Die biblischen Psalmen in der Chormusik

Meinrad Walter

König David, Luttrell Psalter, 1325-1340

Wie bereits der Name "Psalm" (griechisch für Saitenspiel, Lied) anzeigt, sind die poetischen Gebete, die im biblischen Psalter versammelt wurden, grundsätzlich musikalisch gedacht. Bis heute inspirieren diese über zweitausend Jahre alten Texte Komponist*innen in vielfältiger Weise. Ein farbiges Spektrum an Chorsätzen vergangener Jahrhunderte und aktueller Kompositionen lässt sich im Chorbuch Psalmen entdecken.

Ohne die 150 Psalmen wäre die Musikgeschichte ärmer. Diese oftmals vertonten Gebete – vom schlichten Lied bis zur Psalmensinfonie, vom barocken Psalmkonzert bis zu Orgelpsalmen – bilden jedoch kein einheitliches großes Kapitel der Musik, dessen Überschrift "Die Gattung Psalm" heißen könnte. Psalmen begegnen uns in allen Epochen und an ganz verschiedenen Orten. Es beginnt mit jüdisch-hebräischen Singweisen und der Gregorianik als einstimmigem "Klangleib" der Worte, wobei die Klänge ganz im Dienst der liturgischen Verkündigung stehen.

Martin Luthers Psalmlieder – mit Aus tiefer Not schrei ich zu dir (Psalm 130) gelingt ihm bereits beim ersten Versuch ein großer Wurf – gehören ebenso zur Psalmen-Musik wie J. S. Bachs doppelchörige Motette Singet dem Herrn ein neues Lied (Psalm 149 und 150), Monteverdis opulente Marienvesper ebenso wie die Kleinen geistlichen Konzerte von Heinrich Schütz. Überdies sind Psalmen eine wichtige Inspirationsquelle nicht nur für Kompositionen, sondern auch für das Improvisieren.

Als Lebensbuch, Glaubensbuch und Liederbuch entstand im Volk Israel über einen langen Zeitraum der Psalter. Die Bibelwissenschaft versteht ihn heute als theo-poetische "Komposition". Nicht nur die hellen Seiten des Lebens mit Lob, Dank und Vertrauen – bis zum Jubelruf, dem nicht übersetzbaren "Halleluja!" – spiegeln sich darin, sondern auch Verzweiflung und Klage, etwa im 22. Psalm, den Jesus am Kreuz betet: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Und nicht nur Freunde begegnen uns in den Psalmversen, sondern auch Feinde. Es gibt schlichtweg keine Lebensrealität, vor der die Psalmen die Augen verschließen. Allerdings fordert kein Psalm zur Rache auf. Immer geht es darum, Gott an seine Zusage zu erinnern, dass die Gerechtigkeit "aufblühen" soll und das Unrecht nicht das letzte Wort behält. Die Psalmen sind auch politische Gebete.

"Ich habe die Nacht einsam hingebracht und habe schließlich die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein." Mit diesem Bekenntnis in einem Brief vom 4. Januar 1915 spricht der Dichter Rainer Maria Rilke vielen aus dem Herzen. Auch die Geschichte der Lyrik wäre viel kürzer ohne die Motive und Zitate aus Psalmen. Denken wir nur an Nelly Sachs und Paul Celan. Oder auch an Arnold Schönberg und seine expressiven Gedichte unter der Überschrift Moderne Psalmen. Sein letztes, unvollendetes Werk für Sprecher, gemischten Chor und Orchester op. 50c ist die Vertonung eines solchen "modernen" Psalms. Nach 68 Takten bricht das Stück mit einem Vers Schönbergs ab, der typischer für Psalmen nicht sein könnte: "Und trotzdem bete ich."

Psalmen. Chorbuch

 

CHORBUCH PSALMEN
hrsg. von Stefan Schuck

  • Über 50 Psalmvertonungen aus sechs Jahrhunderten für Gottesdienst und Konzert
  • Stilistische Vielfalt und gemischter Schwierigkeitsgrad: vom "Anglican Chant" bis hin zur virtuosen Motette
  • Für vierstimmig gemischte Chöre, teilweise auch mit Orgel-/ Klavier-Begleitung
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Wie "polyphon" die musikalischen Umsetzungen sind, wird im neuen Carus-­Chorbuch Psalmen deutlich. Schon bei den Worten reicht das Spektrum vom originalen hebräischen Text in Werken für die jüdische Synagogalmusik (Salomon Sulzer, David Rubin) über das kirchliche Latein (Giovanni Pierluigi da Palestrina und Claudio Monteverdi, in jüngerer Zeit Józef Świder und Alwin Michael Schronen) bis zu Psalmen im englisch-anglikanischen Evensong (Thomas Tallis, William Boyce) und vielen anderen Sprachen.

Salomon Sulzer (1804–1890): Was betrübst du Seele dich


Thomas Tallis (1503–1585): Man blest no doubt


Cyrillus Kreek (1889–1962): Mu Jumal


Musikalisch finden wir die chorische Deklamation als Ausweitung der gregorianisch-einstimmigen Modelle des Psalmensingens (so genannte Psalmtöne), sodann choralartige Sätze und schließlich viele Formen der Mehrstimmigkeit: vom besinnlichen schlichten Anglican chant über russisch-orthodoxe Homophonie bis hin zur virtuosen Motette mit jazzartigen Anklängen.

Auch Überraschendes ist zu entdecken: Denn kaum bekannt ist, dass Franz Schubert in seinem Todesjahr 1828 ein Werk in hebräischer Sprache zu Psalm 92 für den synagogalen Gottesdienst komponiert hat. Und nicht selten klingt Persönliches, biografisch Bezogenes in Psalmkomposi­tionen an, etwa wenn Heinrich Schütz, nach dem Tod seiner Frau 1625, das Komponieren in der Vorrede zum Becker-Psalter die "Trösterin" in seiner Traurigkeit nennt. Felix Mendelssohn Bartholdy übermittelte 1844 dem preußischen König, der einem Attentatsversuch unbeschadet entronnen war, "Glück- und Segenswünsche" mit seinem berühmten Chorstück Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir – noch bevor es Eingang in das Oratorium Elias fand.

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847): Denn er hat seinen Engeln befohlen


Im neuen Carus-Chorbuch Psalmen begegnen wir aber nicht nur dem Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy, sondern auch seinem Großvater Moses, der wirklich "Mendels Sohn" war. Dieser große jüdische Humanist hat den gesamten Psalter ins Deutsche übertragen; und diese Textvorlage ist in einer Komposi­tion von Andreas Romberg, Kapellmeister in Gotha, zu finden, der daraus den 150.  Psalm – sozusagen den "Schluss­akkord" der 150 Psalmen – chorisch vertont hat.

Wer auf Entdeckungsreise im neuen Psalmen-Chorbuch geht, mag dies mit einem schönen Wort von Moses Mendelssohn tun. Er rät dazu, bei den Psalmen zunächst all das zu vergessen, was man jemals darüber gehört oder gelesen hat. Wichtiger sei nämlich – in allen emotionalen, rationalen und religiösen "Tonarten" – die unmittelbare Resonanz: "Wähle dir einen Psalm, wie er gerade um die Zeit mit deinem Gemütszustande übereintrifft." Ganz ähnlich hat schon Martin Luther es formuliert: In den Psalmen findest du Worte, die sich auf deine "Sachen reimen", so als wären sie allein für dich gesetzt und die du selbst nicht besser setzen könntest. Die Klänge der "Tonsetzer", in denen die Psalmen immer neu lebendig werden, hat er dabei gewiss auch mit gemeint.